Kapitel 3. Die Pryke-Mine. Der erste Tag
TUU-UU-UUT! BUMM!
Ich sprang aus dem Bett und sah mich in Panik um. Was, wer, wo, wie? Ein
Feuer! Ich muss schnell raus hier! Meine Ohren klingelten von dem Geräusch des
Signalhorns, das plötzlich laut ertönt war, und meine Füße schienen nachgeben
zu wollen. Ich wusste nur, dass ich mich irgendwie retten musste, und rannte um
das Bett herum. Komisch, mein Gehirn schien zu funktionieren, doch mein Körper
bewegte sich unkontrolliert. Das war also Panik! Sogar meine Augen ließen mich
im Stich: Die anderen Sträflinge zogen sich ruhig an, ohne sich von dem
schrecklichen Lärm beeindrucken zu lassen.
„Setz dich hin, schließe die Augen und versuche, dich zu entspannen. Es
geht vorbei”, sagte eine Stimme neben mir. „Sie haben wohl vergessen, dich vor
unserem Weckruf zu warnen. Er hat bei Neuankömmlingen diesen Effekt. Sobald du
gelernt hast, rechtzeitig aufzuwachen, hörst du ihn nicht mehr. Versuche, dich
zu beruhigen. Je aufgeregter du bist, desto schlechter fühlst du dich.“
‚Das sind sie also, die Details meiner Haftstrafe, die zuvor nirgendwo
erwähnt wurden! Nicht nötig, sie aufzuschreiben, überraschen wir den Sträfling
einfach damit‘, dachte ich ärgerlich, setzte mich aber auf das Bett, schloss
die Augen und versuchte, mich zu beruhigen. Das war leichter gesagt als getan,
denn ich war noch immer angespannt, mein Kopf schmerzte und das Klingeln in
meinen Ohren hätte es mit dem Läuten von Kirchturmglocken aufnehmen können.
‚Ich
muss mich ablenken ‘, dachte ich. Darum zwang ich mich dazu, mein Gehirn arbeiten zu lassen.
Was sollte ich am besten zuerst tun? Ich brauchte einen Plan für den nächsten
Tag, die nächste Woche und das nächste Jahr, und dieser Plan sollte sinnvoll und
langfristig angelegt sein.
Ich überlegte, welche Dinge für heute wichtig waren:
1. Mit den Regeln und Leuten
hier vertraut werden.
2. Meine Fähigkeiten als
Schamane ergründen.
3. Sicherstellen, dass ich die
Tagesquote erreiche.
4. Wahlweise: etwas mehr als
die Tagesquote erarbeiten und mich über Möglichkeiten zum Geldverdienen
informieren.
Das reichte für heute. Als Nächstes war der Plan für die Woche dran:
1. Herausfinden, wie die
Aussichten sind, meine Fähigkeiten zu verbessern und wie schnell ich sie
entwickeln kann.
2. Ersatzkleidung für meine
gestreifte Kleidung finden.
3. 20 Silbermünzen verdienen,
um das Juwelierhandwerk freischalten zu können.
Als Letztes machte ich den Plan für das Jahr. Das war einfach:
1. Überleben und nicht
verrückt werden.
2. Einen Edelstein finden.
3. Wahlweise: von der Mine in
die Hauptspielwelt wechseln.
Nachdem ich einen Aktionsplan für die nahe Zukunft geschmiedet und meine
Gedanken geordnet hatte, öffnete ich die Augen und sah einen Sträfling, der auf
dem Bett neben mir saß und mich aufmerksam betrachtete. Der Mensch - er war
eindeutig ein Mensch, sonst müsste ich mich schon sehr irren - wies eine
bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Zwerg auf: Er war klein und untersetzt und
hatte strahlende, Augen mit einem durchdringenden Blick. Ich stellte fest, dass
in seinen Augen keinerlei Aggression zu sehen war. Ich sah Interesse und
Mitgefühl – alles, nur keine Aggression.
‚Mit den Sträflingen hier stimmt etwas nicht‘, dachte ich bei mir.
‚Vielleicht graben sie ja das falsche Erz aus.‘
„Hast du dich erholt?“, fragte er, und am Klang seiner Stimme erkannte
ich, dass er derjenige gewesen war, der mir die Sache mit dem Weckruf erklärt
hatte. „Zieh dich an, wir sollten zum Essen gehen. Du kannst nicht arbeiten,
wenn du nichts isst. Und nimm deine Spitzhacke und deinen Beutel mit, denn du
kommst vor heute Abend nicht zurück.“
„Da... danke, Kartalonius“, sagte ich, während ich mit etwas Mühe den
Namen las, der blass über dem Spieler leuchtete. Ich zog mir schnell eine
saubere Jacke über. Sträfling zu sein hatte wenigstens einen Vorteil: Die
Kleidung reinigte sich von selbst. Fantastisch! Dann nahm ich die Spitzhacke
und folgte Kartalonius.
„Du kannst mich
einfach Kart nennen“, lachte er, als er sich nach mir umdrehte und langsamer
wurde, damit ich ihn einholen konnte. „Etwas anstrengend, jedes Mal diesen
Zungenbrecher auszusprechen. Kart reicht aus. Ich habe mich inzwischen daran
gewöhnt, schließlich bin ich schon elf Jahre hier ... und ich habe noch vier
Jahre vor mir“, fügte er nach einer kurzen Pause traurig hinzu. „Aber
konzentrieren wir uns nicht auf die negativen Dinge. Wir müssen hier
miteinander leben, darum lass uns gleich einen guten Anfang machen. Ich hoffe,
du bist nicht zu nervös. Heute Morgen bist du um dein Bett herum gerast, als ob
du deinen Fuß mit der Spitzhacke getroffen hättest. Und du hast geschrien:
‚Feuer! Rette sich, wer kann!‘“
Ich spürte, wie ich
unfreiwillig rot wurde. Hatte ich wirklich geschrien? Mein kopfloses Rennen
musste ziemlich lächerlich ausgesehen haben. Insgeheim verfluchte ich die
Klugscheißer, die sich den Weckruf hatten einfallen lassen. Dann sah ich Kart
an. Der „Kleine“ war also nicht so harmlos, wie er aussah. Er hatte nicht ohne
Grund 15 Jahre bekommen. Man musste schon einiges auf dem Kerbholz haben, um so
hart bestraft zu werden.
„Mach dir nicht so
viele Gedanken“, lächelte Kart, als er meine Reaktion sah. „Diese Mine ist
einzigartig, man wird nicht zufällig hierhergeschickt. Wir haben hier
hauptsächlich Betrüger und Veruntreuer und sogar einen Entführer. Aber
gewalttätige Leute gibt es nicht. Wenigstens noch nicht. Hat dir der Direktor
erklärt, was passiert, falls du gegen die Regeln verstößt?“
Ich schüttelte den
Kopf und kreuzte in Gedanken das Kästchen „Die NPCs in der Mine sind echte
Mistkerle“ an.
„Es ist ganz
einfach: Sobald du jemandem absichtlich Schaden zufügst, egal ob mit der Hand,
einer Spitzhacke oder einem Stein, sinkt deine Energie auf 0 und du fällst
völlig entkräftet zu Boden. Steht deine Energie auf 0, verlierst du alle fünf
Sekunden einen Trefferpunkt, während sich die Energie nicht regeneriert. Wenn
du nicht sofort Wasser bekommst, stirbst du innerhalb weniger Minuten. Und ich
sage dir, Sterben ist eine sehr unangenehme Erfahrung, besonders weil du alle
Fähigkeitslevel verlierst, die du bereits erreicht hattest. Das ist das
Besondere an unserer Mine. Für viele Bewohner ist das schlimmer als sterben,
denn ein Handwerk auf einem niedrigen Fähigkeitslevel auszuüben, ist eine
mühselige Angelegenheit. Außerdem ist es ziemlich teuer, ein höheres Level zu
erreichen.“
Ein Handwerk
ausüben? Wovon redete er?
„Das ist in
Ordnung. Ich halte mich an meine eigene Regel, dass ich niemanden belästige,
solange mich niemand belästigt. Aber kannst du mir mal sagen, warum mir noch
niemand einen feindlichen Blick zugeworfen hat?“, fragte ich und zeigte auf
einen Gnom, der Kart freundlich zuzwinkerte. „Man bekommt das Gefühl, dass die
Leute hier keine Kriminellen sind, sondern ganz gewöhnliche Arbeiter, die ihren
Job erledigen und dann nach Hause gehen, sich mit einem kühlen Bier aufs Sofa
setzen und ... Entschuldige, ich träume laut vor mich hin. Aber in Gefängnissen
sieht es normalerweise ganz anders aus. Wir befinden uns zwar in einer
virtuellen Realität, doch die Leute hier sind echt und jeder einzelne von ihnen
ist ein Krimineller. Sie sehen einen voller Interesse, ja, fast mit
Begeisterung an, wie Tänzer auf einem Ball. Solche Blicke sind mir noch nicht
einmal im wirklichen Leben begegnet, und wir sind im Gefängnis. Worin liegt das
Geheimnis?“
„Gut aufgepasst, du
hast gleich den Kern der Sache getroffen“, bemerkte Kart, während er sich in
der Schlange einreihte, die um Essen anstand.
„Schau, das ist
Altarionus, oder einfach Alt.“ Er schlug dem Mann vor uns auf die Schulter.
„Hallo, Alt, hast du es geschafft, etwas grüne Farbe für die Leinwand zu
kaufen?“
Trotz der lockeren
Begrüßung drehte Alt sich gelassen um und anstatt einen Streit anzufangen,
lächelte er freundlich zurück.
„Oh, hallo, Kart!
Nein, ich habe sie noch nicht gekauft. Die verflixte Farbe kostet fast fünf
Goldmünzen, doch ich habe nur etwas mehr als drei. Man kann hier so hart
arbeiten wie man will und verdient trotzdem nicht mehr als zehn Silbermünzen am
Tag. Der Direktor wird sein neues Gemälde wohl erst in ein paar Wochen
bekommen. Es kribbelt mir in den Fingern, es fertigzustellen. Ich gehe die
Wände hoch, wenn die Arbeit nicht bald erledigt ist! Ich habe mehrmals
versucht, Rine zu überzeugen, mir die Farbe zu schenken oder mir einen
Preisnachlass zu geben. Ich habe an seine sanfte Seite appelliert und ihm
gesagt, dass ich nur noch 10% benötige, bis ich als Künstler Level 5 erreicht
habe, doch der Zwerg ist stur. Es stimmt, was man sagt: Es ist leichter, mit
einer Wand zu verhandeln als mit einem Zwerg. Und du, junger Mann, was bist du
von Beruf?“
Endlich verstand
ich es. Die luxuriöse Innenausstattung des Verwaltungsbüros, die freundlichen
Blicke der anderen Sträflinge – kreative Menschen können andere nicht feindlich
ansehen – und Karts Bemerkung, dass diese Mine einzigartig wäre und sie nicht
jeden hierher schicken würden: Ich war in einer Mine für Meisterhandwerker
gelandet – Leute, denen bei ihrer Strafverhängung ein Beruf gegeben worden war.
Deshalb war es hier so ruhig, darum war Kart so freundlich und Alt so
gesprächig. Wenn man die letzten zehn Jahre damit verbracht hatte, kreative
Handwerksarbeit zu leisten, verlor man früher oder später seine negative
Haltung. Es handelte sich hier also eher um eine Zone zur Rehabilitation und
Umschulung der Sträflinge als um eine Mine. An was für einem Ort war ich bloß
gelandet!
„Ich bin Juwelier”,
murmelte ich etwas ratlos. Nun sah ich die Sträflinge plötzlich in einem
anderen Licht. In der Mine lebten einige hundert Seelen – Menschen, Gnome,
Zwerge und sogar ein Ork. Wie Rine schon gesagt hatte, gab es Bildhauer,
Glasbläser und einen Holzschnitzer. Bei dem Holzschnitzer handelte es sich
höchstwahrscheinlich um den Ork, der nicht weit von uns in der Schlange stand
und ein Stück Holz in seinen Händen drehte.
„Du hast einen echt
seltenen Beruf!“, rief Kart begeistert aus. „Während meiner ganzen Zeit hier
hat es noch keinen Juwelier gegeben! Ich habe einen guten Rat für dich, mein
Freund. - Guck mich nicht so misstrauisch an, ich gebe dir keinen schlechten
Rat. - Reiß' dich zusammen, vergiss deine Müdigkeit und übertriff deine Quote.
Dein Ziel sollte es sein, Geld zu verdienen, damit du deinen Hauptberuf
freischalten kannst. Und wenn du in dem Beruf levelst ... Nein, das verrate ich
dir nicht, du wirst es selbst herausfinden. Übrigens, je mehr du dir
erarbeitest, desto mehr Geld bekommst du, und mehr Geld bedeutet hier ein
leichteres Leben. Stimmt's, Alt?“
Alt nickte
zustimmend.
„Und was bist du
von Beruf? Worauf bist du spezialisiert?“, fragte ich Kart und rechnete ihn
bereits den Bildhauern zu.
Zu meiner
Überraschung antwortete Kart nicht. Sein Blick verfinsterte sich, bevor er sich
umdrehte und auf die weit entfernten Bergspitzen starrte.
„Hat er dort einen
Drachen entdeckt oder habe ich eine unangenehme Frage gestellt?“, fragte ich
Alt.
„Unsere
Ordnungshüter haben sich einen grausamen Scherz mit Kart erlaubt: Sein Beruf
ist noch seltener als deiner. Er ist ein Informant“, erwiderte Alt. „Kart wird
es dir nicht erzählen, darum werde ich es tun. Je höher das Level unseres
Hauptberufs ist, desto mehr ... wie soll ich es ausdrücken? ... Freude fühlen
wir, wenn man so will, Zufriedenheit. Darum versuchen alle in der Mine, ein
höheres Level zu erreichen – alle außer Kart. Um ein höheres Level erreichen zu
können, müsste er dem Direktor Informationen über uns geben. Wenn du bedenkst,
dass Karts Level als Informant nach zehn Jahren Haft immer noch 0 ist, kannst
du dir ausrechnen, wie oft er seinem Beruf nachgeht. Sobald du mit deinem
Juwelierhandwerk Level 1 erreicht hast, wirst du verstehen, was ihm vorenthalten
wird.“
„Tut mir leid,
Kart, das wusste ich nicht“, murmelte ich verlegen.
„Schon gut, ich
habe mich daran gewöhnt. Aber ich bin auf Level 18 in Gesprächigkeit. Ja,
dieses Attribut gibt es, ob du es glaubst oder nicht. Das hilft mir,
durchzuhalten. Übrigens, durch unser Gespräch habe ich es um 0,5% erhöht, und
wir haben noch nicht einmal lange geredet. Du wirst mich in Zukunft also nicht
so leicht loswerden.“
Nun wusste ich,
warum Kart an mir interessiert war. Und ich war naiv genug gewesen, zu glauben,
dass er einfach ein guter Mensch war, der mir helfen wollte. Weit gefehlt – es
war reine Berechnung, Leistung und Gegenleistung.
Während wir uns
noch unterhielten, erreichten wir den Platz, an dem das Essen ausgegeben wurde.
Gestern hatte ich ihn nicht gesehen, zumal er sich direkt hinter der Schmiede
an einem der Eingänge zur Mine befand. Dieser Essensplatz konnte kaum als Platz
bezeichnet werden, denn alles, was dort stand, war ein meterhoher Bottich, aus
dem ein Wärter den Sträflingen das Essen auf die Teller schöpfte. Das war
alles, keine Feuer, keine Zelte oder Unterstände. Auf dem Boden vor dem großen
Kessel waren die sauberen Teller aufgestapelt, und die Häftlinge nahmen sich
einen und traten heran, um sich ihre Portion abzuholen. An jedem Teller war ein
Löffel festgebunden. So ähnlich wie bei einem Rasselspielzeug. Ich fragte mich,
wo das schmutzige Geschirr gesammelt wurde, konnte jedoch nichts entdecken. Na
gut, ich würde beobachten, was Kart machte, und dann das Gleiche tun.
Das Erste, was mir
durch den Kopf schoss, als ich meinen gefüllten Teller erhielt, war: ‚Auf
keinen Fall werde ich DAS essen. Nie im Leben!‘ Was der Aufseher mir gegeben
hatte, konnte man beim besten Willen nicht als „Essen“ bezeichnen. Es war ein
hellgrüner, gleichförmiger Brei, der vor sich hin zu blubbern schien. Obwohl er
flüssig aussah, lief er nicht vom Teller, sondern erstarrte zu einer
unappetitlichen Masse. Zum Glück war sie völlig geruchlos, sonst hätte ich mich
an Ort und Stelle übergeben.
„Nimm deinen Teller
und mach, dass du weiterkommst“, sagte der Aufseher mit einem hämischen
Grinsen, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Du bist hier nicht im
Urlaub. Entweder du isst die Grütze oder du verhungerst. Und?“ Er hielt mir den
Teller erneut hin.
Ich nahm ihn und
sah mich beim Weggehen um. Zu meiner Überraschung aßen die anderen Sträflinge
das Zeug, als wäre ihnen das Aussehen des Essens gleichgültig. ‚Entweder sie
haben die Hoffnung aufgegeben und sich daran gewöhnt oder ich kapiere es
einfach nicht‘, dachte ich verwirrt. Das waren also die beiden Möglichkeiten:
die Abscheu völlig verdrängen und DAS DA essen oder das unvergessliche
Vergnügen genießen, wenn sich der eigene Magen selbst verdaute. Diese
Entwickler waren vielleicht Mistkerle!
Während ich als
Jäger gespielt hatte, war mir nie aufgefallen, dass es einem Charakter ohne
Essen schlecht ging. Wenn man lange Zeit nichts aß, wurde man allmählich träge,
unbeweglicher und man verdiente Erfahrungspunkte langsamer, doch es gab keine
katastrophalen Konsequenzen. Nicht einmal in meinen schlimmsten Albträumen
konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, wenn sich der Magen
selbst verdaute. Ein weiteres nicht erwähntes Detail meiner Haftstrafe? Oder
spielten gewöhnliche Spieler unter vereinfachten Bedingungen, während man es
hier mit der extremen Hardcore-Version zu tun hatte? Oder vielleicht war alles,
was man mir erzählt hatte, auch nur ein Bluff und mir würde nichts passieren?
Ich bekam Kopfschmerzen vom vielen Nachdenken und bedauerte, dass ich mich bei der
Vorbereitung auf die Haftstrafe nicht näher mit diesem Detail beschäftigt
hatte.
Ob ich nun wollte
oder nicht - ich musste mich entscheiden: War ich bereit, das Risiko einzugehen
und herauszufinden, ob man ohne Essen starb? Nein, musste ich beschämt zugeben.
Selbst wenn es ein Spiel war, war ich psychisch nicht zum Sterben bereit, nicht
einmal im virtuellen Sinn. Bei meinen 87 Levels als Jäger war ich nur einige
Male gestorben, bevor es mir auf Level 30 gelungen war, meinen Gegner zu
kontrollieren. Von da an spielte ich wie Koschtschei, der Ewige.[1]
Nun musste ich sogar lächeln, denn mein Koschtschei (mein Jäger) war durch
Maria, die Weise[2]
(Marina) vernichtet worden. Außerdem waren meine Sinnesfilter ausgeschaltet,
wodurch Tod nur bedeutete, dass die Verbindung zu Barliona für einige Stunden
unterbrochen sein würde.
‚Mir bleibt also
nichts anderes übrig, als zu essen‘, dachte ich und starrte hasserfüllt auf
meinen Teller, auf dem die Grütze immer noch blubberte. Ich überwand meinen
Ekel und nahm den ersten Löffel voll von dem Zeug, während ich die Leute um
mich herum beobachtete. Zuerst fühlte ich ein leichtes Prickeln im Mund, als ob
ich einen Brausebonbon lutschen würde. Dann entdeckte ich überrascht, dass die
Grütze einen angenehmen Geschmack hatte. Als das Prickeln in meinem Mund einem
Glücksgefühl im ganzen Körper wich, aß ich schnell die ganze Portion und war
nicht einmal überrascht, als die Meldung über einen Buff, ein positives
Ereignis, erschien:
Erhaltener Buff: Stärke + 1, Energieverlust für die Dauer
von 12 Stunden um 50% reduziert.
Sobald ich die
Meldung gelesen hatte, verschwand der Teller aus meinen Händen. Klasse! Wenn
das schmutzige Geschirr im wirklichen Leben doch nach dem Essen auch von allein
verschwinden würde! Ich schwang meine Spitzhacke über die Schulter und folgte
den anderen zur Mine. Mein erster Arbeitstag erwartete mich.
Die Mine begrüßte
mich mit dem grafischen Staubeffekt, Windstille und brennend heißer Sonne.
Ich hatte im
Bergbau erst Level 1 erreicht. Das bedeutete, dass ich zehn Erzstücke sammeln
musste, gleichgültig, wie viele Level ich heute aufsteigen würde. Die Quote
wurde beim Eintritt in die Mine berechnet, nicht beim Verlassen. So hatte ich
Rine wenigstens verstanden. Ich plante, meine Quote zu übertreffen, und wollte
heute 20 Stücke sammeln. Dann mal los! Ich warf den Beutel auf den Boden, nahm
die Spitzhacke fest in die Hand und begann, auf den Steinhaufen einzuschlagen.
‚Nicht zu hart oder
zu schwach zuschlagen, zwischen die Steine und nicht direkt auf sie zielen ...‘
Während ich arbeitete, rasten mir alle möglichen Gedanken durch den Kopf. ‚Ich
muss auf meine Atmung und meine Energie achten ... Du musst genau zwischen die
Steine schlagen ... Ich frage mich seit Jahr und Tag, „warum ein Bär den Honig mag. Summ! Summ! Summ!
Ich frage mich, warum?“[3]
... Zwischen die Steine schlagen ... Hat der Hase wirklich den ganzen Honig für
Pu auf den Tisch gestellt oder hat er sich etwas für schlechte Zeiten
zurückbehalten? ... Achte auf deine Energie ... Verdammt, diese verfluchte
Spitzhacke ist so schwer ...‘
Nach etwa einer Stunde brauchte ich eine
Pause. Der Stabilitätsbalken der Kupferader hatte bei 60% angehalten, also
musste ich noch mindestens zwei weitere Stunden auf sie einschlagen. Bei diesem
Tempo würde ich heute höchstens drei Adern schaffen. Nicht gerade sehr viel!
Ich musste schneller werden!
Meine Energie war auf 43 und die Trefferpunkte
auf 35 gefallen, darum beschloss ich, etwas Wasser zu trinken, um sie
aufzufüllen. Außerdem konnte ich so gleich herausfinden, wie die Wasserstelle
funktionierte.
Der Wasservorrat befand sich in der Mitte der
Mine. Es handelte sich um einen 20 qm großen Platz, ähnlich den
Arbeitsbereichen der Sträflinge, doch es gab einen Unterschied: Er war nicht
von Steinhaufen umgeben. Dort befanden sich sechs Brunnen, die etwa einen
halben Meter breit und tief waren. Sie hatten keinen Deckel, sondern es waren
einfach Löcher im Boden, die mit Steinen eingefasst waren. Es gab nur eine
Schale zum Wasserschöpfen, die unachtsam auf dem Boden lag. Wie unhygienisch!
Es war ganz gut so, dass es in einer virtuellen Welt keine Keime gab.
Nur eine einzige
kleine Schale für sechs Wasserlöcher und 200 Sträflinge. Das erschien mir
unmenschlich. Es war niemand an der Wasserstelle, darum nahm ich die Schale,
beugte mich über einen der Brunnen und tauchte sie ins Wasser. Welcher Idiot
hatte die glorreiche Idee gehabt, nur eine Wasserstelle für so eine große Mine
einzurichten? Außerdem befand sie sich an einem ungünstigen Platz.
Nachdem ich das
Wasser getrunken hatte, das lange nicht so gut schmeckte wie das, das Rine mir
gestern gegeben hatte, waren meine Energie und Trefferpunkte wiederhergestellt,
doch ich sah eine seltsame Meldung über einen Debuff vor mir:
Wasser verbraucht. Zeitdauer läuft ab in: 6 Stunden.
Ich hatte keinen
Zugriff auf die Eigenschaften und die Beschreibung des Debuffs, weshalb ich mir
keine weiteren Gedanken darüber machte und zu meinem Arbeitsbereich
zurückkehrte.
Während der
nächsten Stunde arbeitete ich zielstrebig daran, die Ader zu zerstören. Erst
blieben noch 40% Stabilität, dann nur noch 20%. Nur noch etwas mehr! Ich biss
mir auf die Lippe und hämmerte mit meiner Spitzhacke wie wild auf den Stein
ein. Ich fragte mich, ob ich in der realen Welt auch fähig gewesen wäre, in
diesem Tempo zu arbeiten, oder ob ich schon vor Müdigkeit umgefallen wäre. Nur
noch 10% ... Plötzlich rutschte mir die Spitzhacke aus den Händen und ich fiel
zu Boden.
Du bist müde. Aktuelle Energie: 10 von 100.
Deine Trefferpunkte sind um 30 gefallen. Insgesamt: 10
von 40.
Verdammt noch mal!
Wie hatte ich die Energie vergessen können? In den Einstellungen richtete ich
eine Meldung ein, die als Warnung aufleuchten sollte, falls meine Energie unter
30 sank. Jetzt war das Wichtigste, zum Wasser zu kriechen und unterwegs nicht
abzukratzen! Der seltsame Debuff verschwand jedoch nicht, dafür hatte sich die
Zeitanzeige geändert:
Wasser verbraucht. Zeitdauer läuft ab in: 4,5 Stunden.
Sobald ich das
Wasser erreicht hatte, nahm ich die Schale und trank einige Züge. Während meine
Müdigkeit langsam nachließ, starrte ich verständnislos auf den Text, der vor
meinen Augen erschien:
Du hast zum zweiten Mal innerhalb von 6 Stunden Wasser
verbraucht.
Verhängte Strafe: Die Fähigkeitspunkte werden um 10%
reduziert. Der nächste Reduzierungsgrad: 20%. Achtung: Du hast noch keine
Fähigkeitspunkte verdient, Gesamtstrafe: 0.
Du hast deine Trefferpunkte wiederhergestellt. Insgesamt:
40 von 40.
Du hast deine Energie wiederhergestellt. Insgesamt: 100
von 100.
Obwohl ich meine
Energie wiedererlangt hatte, war ich zu niedergeschlagen, um zu fluchen oder
meinen Gefühlen auf andere Weise Ausdruck zu verleihen. Ich stand auf und ging
deprimiert zu meinem Arbeitsbereich zurück. Ich musste die Tagesquote in jedem
Fall erreichen und durfte erst wieder in 4,5 Stunden Wasser trinken. Endlich
dämmerte es mir, dass dieser Ort wirklich ein Gefängnis war und keine Freizeit-
und Erholungsanlage.
Die Ader hatte nur
noch 5% Stabilität übrig. Automatisch nahm ich die Spitzhacke, schlug
systematisch zu und blendete meine Umgebung völlig aus.
Einige Minuten
später flackerte der Stabilitätsbalken ein letztes Mal auf und der Steinhaufen
verschwand. An seiner Stelle lagen sechs Erzstücke auf dem Boden. Ich las
schnell die Meldung, die vor mir erschien, und wischte sie fort. Dann sammelte
ich das Erz in meinen Beutel und begann mit der zweiten Ader.
Verdiente Erfahrung: +
1 Erfahrung. Verbleibende Punkte bis zum nächsten Level: 99.
Fähigkeitssteigerung: +
50% auf Bergbau. Insgesamt: 50%.
+
10% auf Stärke. Insgesamt: 10%.
+
5% auf Ausdauer. Insgesamt: 5%.
Man erhielt nur
einen Erfahrungspunkt pro Ader ... Schlag ... Ich musste noch 99 Adern
zerstören, um das nächste Level zu erreichen ... Schlag ... Drei bis vier Adern
pro Tag ... Schlag ... Es dauerte mindestens einen Monat, ehe ich das nächste
Level erreichte ... Schlag ... Ich würde hier verrecken ... Schlag ...
Jedenfalls das, was von meinem Willen noch übrig war ...
In der nächsten
Stunde, in der ich an der zweiten Ader arbeitete, sank ihre Stabilität auf 65%
und meine Energie auf 30. Der Wasser-Debuff zeigte an, dass ich erst wieder in
zwei Stunden trinken konnte, darum legte ich mich in den Schatten des
Steinhaufens, um der brennenden Sonne zu entkommen. Ich schloss die Augen und
stellte mir vor, dass ich in kühlem Wasser schwamm und es an meinem Gesicht
herunterlief. Langsam trank ich das süße, kalte, belebende Wasser ...
Ein leises Quieken
neben mir erklang wie ein Donnerschlag an einem schönen Tag und übertönte den
durchdringenden Lärm der Spitzhacken. Ich sprang auf und blickte mich
erschrocken um.
Auf einem der
Steinhaufen in meinem Abschnitt saß eine riesige Ratte, ein etwa kniehohes
Tier, und starrte mich an. Ich starrte wie betäubt auf das Tier, und eine Weile
lang spielten wir diesen „Wettbewerb im Anstarren“. Was machten Ratten an
diesem Ort? Hier gab es doch nur Steine. Wo fanden sie etwas zu fressen?
Standen die Sträflinge etwa auf der Speisekarte? Diese Fragen blieben
unbeantwortet, doch eines stand fest: Die Ratte war da und starrte mich an. Als
käme sie zu einer Art Entschluss, schnaubte sie schließlich, sprang von der
Kupferader herunter und verschwand aus meinem Blickfeld.
Erstaunt blickte
ich für einige Minuten zu dem Steinhaufen hinüber, auf dem die Ratte gesessen
hatte. Eine Ratte in einer Erzmine! Das war unmöglich! Das war ... Das war
kostenlose Erfahrung! Erfahrung, die nicht vom Erzsammeln abhängig war! Sobald
ich das zweite Level erreichte, würde ich alle meine Punkte benutzen, um ...
Ich musste in meinem Abschnitt unbedingt auf Rattenjagd gehen. In dem Moment,
in dem ich in Erwägung zog, die Ratte zu erlegen, erinnerte ich mich daran,
dass Kart gesagt hatte, würde man jemandem Schaden zufügen, sänke die Energie
auf 0 und man biss ins Gras. Mist! Galt diese Regel auch für Ratten? Das musste
ich zuerst herausfinden, damit ich nicht in Schwierigkeiten geriet.
Zu meiner
Überraschung war in der Zeit, in der ich mich ausgeruht und über die Rattenjagd
nachgedacht hatte, meine Energie auf 80 gestiegen, meine Trefferpunkte waren
wieder vollständig hergestellt und der Wasser-Debuff zeigte an, dass ich in
weniger als einer Stunde wieder etwas trinken durfte. Ich nahm die Spitzhacke
und beschloss, so lange zu arbeiten, bis meine Energie auf 30 gesunken war.
Dann würde ich warten, bis die Zeit abgelaufen war, bis ich zur Wasserstelle
gehen durfte. Dort würde ich jemanden fragen – wenn nötig, einen Aufseher – ob
es eine Strafe für das Töten von Ratten gab.
Entweder hatte die
Aussicht auf die Rattenjagd meine Kraft erhöht oder ich hatte den Dreh beim
Arbeitsprozess inzwischen heraus, denn als meine Energie schließlich auf 30
gefallen war, betrug die Stabilität der Ader nur noch 15%. Die Zeit des
Wasser-Debuffs war abgelaufen, und ich machte mich mit schmerzenden Knochen auf
den Weg, um etwas zu trinken.
An der Wasserstelle
drängten sich die Sträflinge. Offensichtlich hatten viele von ihnen den Punkt
erreicht, an dem sie wieder trinken durften. Nachdem ich mich erfrischt hatte,
sah ich mich nach Kart um, doch zu meiner Enttäuschung entdeckte ich ihn
nirgends. Das Gleiche galt für Alt, und so ging ich nach Abwägung aller Pro-
und Kontraargumente zu einem Aufseher.
‚Ich frage mich‘,
dachte ich, während ich mich dem Wärter näherte, ‚ wo die Entwickler wohl die
Vorlage für einen derart verachtenden Blick gefunden haben? Mit einem solchen
Blick muss man geboren werden, den kann man sich nicht aneignen. Die Wärter
sehen einen an, als ob man ein kleines, unwürdiges Etwas ist. Meine Güte, ich
werde ... das ist wirklich äußerst unangenehm ...‘
„Was willst du?“,
schnauzte der Wärter mich an, und es schien in der ganzen Mine widerzuhallen.
„Wird man für das
Töten von Ratten bestraft?“, fragte ich schnell. Höflichkeit konnte ich mir bei
den Wärtern sparen.
„Ratten? Hahaha! Du
hast also beschlossen, ein Rattenjäger zu werden, was?“, lachte der Wärter.
„Abgesehen davon, dass sie dich als kleinen Imbiss verspeisen, gibt es keine
Strafe. Mit deinen kurzen Beinen kannst du sie sowieso nicht fangen! Man kann
sie nur aus der Entfernung treffen, doch womit willst du sie denn treffen? Mit einem
Stein? Hör auf, an Ratten zu denken, und beweg deinen Arsch zurück an die
Arbeit!“
Richtig, abgesehen
von dem total freundlichen Blick hatte man diesen Gesetzeshüter auch noch mit
einem engelsgleichen Naturell ausgestattet. Aber wenigstens hatte ich die
Information bekommen, die ich brauchte: Ich durfte Ratten jagen, ohne Angst vor
einer Strafe haben zu müssen. Diese Gelegenheit musste ich nutzen.
„Warte!“, rief der
Wärter mir nach. „Falls es dir doch irgendwie gelingen sollte, eine Ratte zu
töten, kannst du bei Rine eine Belohnung dafür beanspruchen. Ratten gehen Rine
noch mehr auf die Nerven als du mir. Vergiss nicht, den Rattenschwanz als
Beweis mitzubringen.“
Nachricht für den Spieler!
Wenn du eine Ratte tötest, bringe den Rattenschwanz zu
Rine und fordere deine Belohnung ein: für jeden Rattenschwanz 10 Kupfermünzen
und + 2 Ansehen bei den Wärtern der Pryke-Mine.
Als ich wieder in
meinem Abschnitt angekommen war, beschloss ich, so schnell wie möglich mit der
zweiten Ader fertig zu werden, mit der dritten anzufangen, und sobald meine
Energie auf 30% gesunken war, auf Rattenjagd zu gehen. Schließlich war es eine
Gelegenheit, Geld zu verdienen und mein Ansehen zu erhöhen! Das konnte ich mir
nicht entgehen lassen. In Gedanken war ich bereits auf der Jagd und bemerkte
nicht, als der Stabilitätsbalken flackerte und die Ader verschwand.
Verdiente Erfahrung: +
1 Erfahrung. Verbleibende Punkte bis zum nächsten Level: 98.
Fähigkeitssteigerung: +
50% auf Bergbau. Insgesamt: 100%. Bergbau erhöht sich um 1. Insgesamt: 2.
+
10% auf Stärke. Insgesamt: 20%.
+
5% auf Ausdauer. Insgesamt: 10%.
Ich warf einen
kurzen Blick auf die erschienene Meldung und wischte sie dann fort, um das Erz
aufzusammeln und mit der dritten Ader zu beginnen, als ...
Ich wurde von einer
leichten, schwerelosen Freude erfasst, die wie ein kühles, frisches Bier war,
das man nach der Sauna trinkt, und die mich von Kopf bis Fuß einhüllte. Dieses
Gefühl war so unerwartet und so angenehm, dass ich herumspringen, singen und
jemanden umarmen wollte. Wo bist du, Ratte? Ich liebe dich!
Das Glücksgefühl
hielt nicht lange an, doch es hinterließ einen tiefen Eindruck in meiner Seele.
Ja, es lohnte es sich allemal, sich dafür zwölf Stunden am Tag abzurackern. Ich
konnte mir nicht vorstellen, was ich fühlen würde, wenn ich in einem meiner
Attribute oder in meinem Hauptberuf leveln würde. Es konnte also durchaus
vorteilhaft sein, dass die Sinneswahrnehmung in den Kapseln eingeschaltet war.
Alt hatte recht, es war ein unvergessliches Gefühl.
Aus der zweiten
Ader gewann ich sechs weitere Stücke Kupfererz, sodass ich mir keine Sorgen
mehr um die Tagesquote machen musste und mir der Weg zum Geldverdienen
offenstand. Das war der Stand der Dinge: Energie: 95, Stabilität der Ader:
100%, Bergbau: 2. Ich hatte noch fünf Stunden, bis der Tag zu Ende war. Also
los!
Die Meldung zur
Kontrolle meiner Energie, die ich in den Einstellungen eingerichtet hatte,
erschien, nachdem ich etwa eine Stunde gearbeitet hatte. Ich setzte mich auf
den Boden und bemerkte erfreut, dass die Arbeit angenehmer war, seitdem ich das
zweite Level im Bergbau erreicht hatte. Nach etwa einer weiteren Stunde waren
nur noch 45% von der Stabilität der Ader übrig, und ich strengte mich nicht
einmal besonders an!
Nun musste ich die
Rattenjagd planen. Ich konnte sie nicht verfolgen, weil ich nicht genug Energie
und Ausdauer hatte. Beweglichkeit würde mir kaum helfen: Mit einem Punkt in
diesem Attribut würde ich mir nur die Beine verletzen und nicht die Ratte. Wie
wäre es mit einer Falle? Anscheinend würde ich alle Hände voll zu tun haben ...
Die
Rattenpopulation in meinem Abschnitt entpuppte sich als ziemlich groß, ich
zählte etwa fünf. Wie alle Tiere an Startorten waren die Ratten nicht aggressiv
und verfügten über 30 Trefferpunkte. Diese beweglichen Biester huschten
zwischen den Steinen hin und her und verharrten selten länger als ein paar
Sekunden auf einer frei zugänglichen Stelle, sodass ich meine Pläne schon zum
Scheitern verurteilt sah. Ich wählte eine Ratte aus und sah mir ihre
Eigenschaften an:
Pryke-Minenratte. Beschreibung: Dieses äußerst bewegliche
Tier tauchte vom ersten Tag an in der Pryke-Mine auf und bereitet der
Verwaltung seitdem große Probleme. Für das Töten von Ratten gibt es eine
Belohnung. Trefferpunkte: 30. Angriff: 10. Rüstung: 2. Magieresistenz: 2.
Als mir keine
Lösung einfiel, rief ich mir automatisch meine Statistik ins Gedächtnis, um
dort nach Möglichkeiten zu suchen.
Volk: Mensch, das
erste Volk in Barliona. Hauptstadt: Anhurs ... Weiter ... Beruf des Charakters:
Bergarbeiter, fähig, Erz zu gewinnen. Während sich das Level des Berufs erhöht,
sinkt die Energie langsamer ... Weiter ... Klasse: Schamane. Ein spiritueller
Mentor, der mit Geistern kommunizieren und sie um Hilfe bitten kann. Die
beschworenen Geister helfen dem Schamanen, sich zu verteidigen oder verwundete
Kameraden zu heilen. Starke Schamanen können ... Weiter ... Halt! Zurück!
Schamanen konnten
mit Geistern arbeiten! Warum war mir das nicht früher eingefallen? Hatte ich
nicht heute Morgen in meinem Plan aufgelistet, mehr über die Schamanen-Klasse
herauszufinden?
Es dauerte eine
Weile, bis ich verstanden hatte, wie sich das Zauberbuch öffnen ließ, das ich
ausgewählt hatte, und begann, es zu studieren. Es gab nur zwei Zaubersprüche in
dem Buch, doch die hatten es in sich!
Beschwörung des Schwächeren Geists der Heilung: Rufe die
Welt der Geister an und beschwöre den Schwächeren Geist der Heilung, der der
verletzten Person einen Teil seiner Lebenskraft gibt. Die Stärke des
beschworenen Geists und die gegebene Menge an Lebenskraft werden von der
Intelligenz bestimmt. Kamlanie[4]
(Zauberzeit): 2 Sekunden. Kosten für die Beschwörung vor der Initiation als
Schamane: (Levelhöhe des Charakters) = Anzahl der zu bezahlenden Trefferpunkte
des Beschwörers, Heilungskosten: (Levelhöhe des Charakters) x 4 Mana. Stellt
die Anzahl von (Intelligenz x 3) Trefferpunkten wieder her.
Angriff durch den Schwächeren Geists des Blitzschlags:
Rufe die Geisterwelt an und beschwöre den Schwächeren Geist des Blitzschlags,
um deinem Gegner einen Teil seiner Lebenskraft zu entziehen. Die Stärke des
beschworenen Geists und die entzogene Lebenskraftmenge werden von der
Intelligenz bestimmt. Kamlanie (Zauberzeit): 5 Sekunden. Kosten der Beschwörung
vor der Initiation als Schamane: (Levelhöhe des Charakters) = Anzahl der zu
bezahlenden Trefferpunkte des Beschwörers, Angriffskosten: (Levelhöhe des
Charakters) x 4 Mana. Fügt (Intelligenz x 3) Schaden zu. Reichweite: 20 Meter.
Puh! Ich musste den
Text mehrmals lesen, bevor ich ihn verstanden hatte. Sie machten es einem nicht
gerade leicht. Und sie ließen sich etwas einfallen. Es war möglich, Geister zu
beschwören, bevor man als Schamane initiiert worden war, doch man musste mit
seinen eigenen Trefferpunkten bezahlen. Und je höher das Level des Charakters war,
desto mehr kostete es. Ziemlich hart. Doch ich musste immer noch herausfinden,
wie ich das alles anwenden konnte, vor allem da mir das Wort „Kamlanie“ ein
Rätsel war. Ich hatte es noch nie zuvor gehört. Was bedeutete es und warum
musste ich es zwei Sekunden lang ausführen? Ich wollte es gleich einmal
ausprobieren. Die Ratten flitzten in meinem Abschnitt herum, doch eine saß auf
einem Steinhaufen und sah mich an. Ob ich sie an Käse oder so erinnerte? Also
gut, du bleibst dort sitzen und ich werde ...
„Geist, greife
an!“, rief ich und zeigte auf die Ratte. Die Schnurrhaare der Ratte zuckten,
und sie drehte ihre Nase hin und her, doch sie blieb sitzen, als ob nichts
passiert wäre. Das hatte nicht geklappt!
„Ich rufe den
Schwächeren Geist des Blitzschlags an, diese Ratte niederzustrecken! Greife
an!“ Wieder zeigte ich in Richtung der Ratte.
Ich probierte es
weiter mit „Geist, ich beschwöre dich!“ und „ Fall tot um!“, doch langsam
dämmerte es mir, dass es so nicht funktionieren würde. Normalerweise wurde die
Anwendung von Zaubersprüchen und besonders die Beschwörung von Geistern während
der Initiation erklärt, die es für Sträflinge aber nicht gab! Die einzige
Magie, die ich hatte verwenden können, als ich noch als Jäger spielte, waren
Spruchrollen gewesen. Verdammt, wenn ich nur die Spielanleitung lesen könnte!
Doch wer würde mir schon Zugriff darauf geben?!
Vielleicht lag die
Lösung des Problems ja beim Zauberbuch selbst? Vorsichtig berührte ich das
Piktogramm des Schwächeren Geists der Heilung. Es konnte ja nichts Gefährliches
passieren, falls dieser Zauber tatsächlich funktionierte. Plötzlich sah ich die
leuchtende Projektion eines Kreuzes auf meiner Hand. Es war klein und ich
konnte es nicht fühlen, doch es blieb auch dann an meiner Hand, als ich sie
öffnete. Ich schüttelte die Hand etwas, doch der Zauber löste sich nicht. Nun,
das war immerhin schon mal etwas. Doch wie konnte ich den Zauber aktivieren?
Ich ballte die Faust, um das Kreuz zu zerdrücken, und sofort erschien eine
Meldung:
Willst du deinen aktiven Zauberkräften den Zauber
„Beschwörung des Schwächeren Geists der Heilung“ hinzufügen?
Ja, wollte ich, und
nun?
Der Zauber „Beschwörung des Schwächeren Geists der
Heilung“ wurde deinen aktiven Zauberkräften hinzugefügt. Um den Zauber zu
aktivieren, wähle ein Heilungsziel, aktiviere die Beschwörung mit deinen
Gedanken und führe das Schamanenritual Kamlanie zwei Sekunden lang aus. Solange
du noch nicht als Schamane initiiert bist, kannst du für das Ritual anstelle
der Zaubertrommel ein beliebiges Objekt benutzen. Achtung! Aufgrund der
Beschränkungen, denen dieser Ort unterliegt, ist das Beschwören von Geistern
zur eigenen Heilung VERBOTEN.
Verfügbare Plätze im Bereich Aktive Zauberkräfte: 7 von
8.
Kamlanie musste mit
einer Zaubertrommel ausgeführt werden? Bedeutete das, um heilen oder Schaden
zufügen zu können, musste ich einen Tanz mit einer Trommel oder etwas Ähnlichem
ausführen, bis ich als Schamane initiiert war? Mir wurde klar, warum diese
Klasse so unbeliebt war: Niemand wollte wie ein tanzender, brabbelnder Idiot
aussehen. Als ich noch als Jäger gespielt hatte, hatte ich Magier gesehen, die
ruhig dastanden, mit ihren Händen auf den Feind zeigten und dann Blitze,
Feuerbälle und Eispfeile schossen. Weit und breit keine Tänze mit einer
Trommel. Das war echte Magie. Und hier ... Ich war niedergeschlagen, denn ich
erinnerte mich daran, dass die Schamanen, die ich schon gesehen hatte, wirklich
wie tanzende, brabbelnde Idioten aussahen. Zudem war mir die Möglichkeit
genommen, mich selbst zu heilen. Wenn meine Energie sank, verlor ich
Trefferpunkte, also käme ein kleiner Bonus wie die Selbstheilung sehr gelegen.
Träum nur weiter ... Na ja, ich hatte immer noch den Geist des Blitzschlags!
Als ich das Symbol
für den Angriff mit dem Schwächeren Geists des Blitzschlags berührte, erwartete
ich, seine Projektion auf meiner Hand zu sehen, doch stattdessen erschien eine
Meldung:
Aufgrund der Beschränkungen, denen dieser Ort unterliegt,
ist die Verwendung des Zaubers „Angriff des Schwächeren Geists des
Blitzschlags“ auf dem Gelände der Pryke-Kupfermine nur möglich, wenn dein
Ansehen bei den Wächtern der Pryke-Mine den Status „freundlich“ oder höher
erreicht hat.
Aktueller Status: Neutral.
Ich sackte völlig
entmutigt in mich zusammen. Wie konnte das sein? Es gab diesen Bonus, und doch
konnte ich ihn nicht anwenden. Warum hatten sie den Zauberspruch überhaupt im
Buch gelassen? ‚Du kannst feiern, Herr Ratte‘, dachte ich bitter, ‚dein Leben
wird lang und friedlich sein.‘ Tschüss Ansehen und adieu Geld. Dabei war das
Glück so nahe gewesen.
Tief seufzend stand
ich auf, schwang die Spitzhacke über die Schulter und ging in den Schatten, um
mich auszuruhen und meine Energie wiederherzustellen. Meine enttäuschten
Hoffnungen und der lästige Blick der Ratte, die mich immer noch anstarrte,
machten mich ärgerlich. In meinen Gedanken wählte ich die Ratte aus, ergriff
meine Spitzhacke, drückte auf das Symbol des Schwächeren Geists der Heilung in
meiner Hand und stellte mir vor, zu tanzen und auf die Spitzhacke zu schlagen,
als wäre sie eine Trommel. Dazu murmelte ich das erste Lied, das mir in den
Sinn kam:
„Der Schamane hat
drei Hände, oh, oh, oh ...“
‚Na, wie gefällt
dir das, du kleines, graues Biest? Fall tot um und hör auf, über mich zu
lachen.‘
Die Ratte quiekte
seltsam und rannte davon. Sie machte einige merkwürdige Geräusche, doch darauf
achtete ich kaum. Meine Aufmerksamkeit galt der Meldung, die vor meinen Augen
auftauchte:
Fähigkeitssteigerung: + 10% auf Intelligenz. Insgesamt:
10%.
Deine Trefferpunkte wurden um 1 reduziert. Insgesamt: 29
von 40.
Begeisterung packte
mich, denn ich hatte eine andere Möglichkeit gefunden, mein Level zu erhöhen!
Ich war so erfreut, dass ich das graue, unglaublich schnelle Etwas nicht
bemerkte, das hinter dem Steinhaufen hervorschoss und auf mich zu sprang.
Schaden erlitten. Trefferpunkte wurden um 4 reduziert: 10
(Rattenbiss) - 6 (Rüstung).
Trefferpunkte insgesamt: 25 von 40.
Achtung! Wir empfehlen, die detaillierte
Schadensbeschreibung beim Kämpfen auszuschalten.
Mein Bein tat
schrecklich weh. Verfluchte Ratte, bist du total verrückt geworden? Ich heile dich und gebe dir ein längeres
Leben, und zum Dank dafür greifst du mich an? 4 Trefferpunkte für einen Biss
... Verdammt! Wenn sie so weitermachte, würde sie mich zu Tode beißen! Ich trat
mit aller Kraft nach der Ratte. Sie verlor nicht viele Trefferpunkte, doch sie
rannte davon, sodass ich wieder zu Atem kommen konnte. Dann ergriff ich die
Spitzhacke mit beiden Händen und bereitete mich auf den nächsten Angriff vor.
‚Du willst also Krieg? Fein, kannst du haben!‘
Als Jäger hatte ich
höhere Level hauptsächlich durch das Töten von Monstern erreicht. Deshalb
geriet ich nicht in Panik, sondern wusste genau, was ich gegen die Ratte
unternehmen würde. Ich hatte zwar keinen Bogen, doch dafür verfügte ich über
Erfahrung, die mir noch gut in Erinnerung war!
Die Ratte erholte
sich schnell von meinem Tritt, und anstatt mich wieder ins Bein zu beißen,
sprang sie hoch und wollte mir direkt an die Kehle gehen. Das hatte ich mehr
oder weniger erwartet. Ich schwang die Spitzhacke und traf sie im Sprung,
sodass sie durch die Luft flog. Kritischer Treffer! Der Rattenkörper flackerte
kurz auf, und dann war er bereits eine schwerelose, rattenförmige Wolke, die
sich rasch auflöste. Anstelle der Ratte fiel meine Beute auf den Boden.
Verdiente Erfahrung: +
4 Erfahrung. Verbleibende Punkte bis zum nächsten Level: 94.
Fähigkeitssteigerung: +
20% auf Stärke. Insgesamt: 40%.
+
5% auf Beweglichkeit. Insgesamt: 5%
+
10% auf Ausdauer. Insgesamt: 20%.
Das war ein guter
Bonus! Mehrere Attribute hatten sich auf einmal erhöht und, was noch wichtiger
war, man bekam 4 Erfahrungspunkte für eine Ratte. Wenn ich pro Tag mindestens
fünf Ratten tötete und fünf bis sechs Kupferadern schaffte, würde ich etwa 25
Erfahrungspunkte verdienen. Das bedeutete, dass ich in weniger als einer Woche
ein Level aufsteigen würde! Das neue Level würde neue Fähigkeitspunkte bringen,
und neue Fähigkeitspunkte bedeuteten ein neues Level. Mein Leben hatte einen
Sinn! Doch ich musste unbedingt herausfinden, warum die Ratte mich angegriffen
hatte. Warum hatte ihr mein Heilen missfallen? Generierte es Aggressionen bei
Monstern? Ich musste jemanden finden, der es mir erklären konnte.
Ich sammelte die
Gegenstände ein, die die Ratte zurückgelassen hatte – das Rattenfell, Fleisch
und den Schwanz – und beschloss, eine Pause zu machen. Ich hatte noch drei
Stunden, bis der Arbeitstag endete, und in der Zeit musste ich die dritte Ader
abbauen, und, sobald sich meine Gesundheit erholt hatte, würde ich noch eine
Ratte „heilen“.
Die dritte Ader
brachte mir + 5 Erzstücke, + 1 Erfahrung, + 10% Stärke, + 10% Ausdauer und +
50% Bergbau. Ich schaffte sogar noch eine vierte Ader, durch die ich mir + 5
Erzstücke, + 1 Erfahrung, + 10% Stärke, + 5% Ausdauer und + 1 Bergbau verdiente,
sodass ich Level 3 im Bergbau erreichte. Da ich angesichts des neuen Levels
wieder das intensive Glücksgefühl empfand, beschloss ich, wenigstens ein
Attribut so schnell wie möglich zu erhöhen, um herauszufinden, in welche Art
von Hochstimmung es mich versetzen würde.
Was die Ratten
betraf, konnte ich nur noch eine weitere töten. Ich sang das Lied zwei Mal,
ließ die Ratte nur einmal in meine Nähe kommen und erledigte sie ziemlich
schnell, was mir + 4 Erfahrung, + 20% Intelligenz, + 20% Stärke, + 5% Beweglichkeit
und + 10% Ausdauer einbrachte. Doch eines musste ich der Ratte lassen: Sie
hatte ihre einzige Chance gut genutzt und mich für 10 Trefferpunkte gebissen.
Danach konnte ich keine weiteren Ratten mehr entdecken, sie hatten sich
wahrscheinlich versteckt. Das war in Ordnung, denn an meinem ersten Tag hatte
ich mehr als genug erreicht.
Das Signalhorn
erklang und verkündete das Ende des Arbeitstags. Ich nahm meinen schweren
Beutel, machte mich auf den Weg zum Ausgang und stellte mich in der Schlange
an, um Rine meine Tagesquote abzuliefern und ihm meinen Überschuss zu
verkaufen, von dem ich eine Menge gesammelt hatte. Außerdem musste ich
herausfinden, was ich mit den Rattenschwänzen machen sollte. Als ich an der
Reihe war, entleerte ich den gesamten Inhalt des Beutels auf dem Tisch und
bemerkte erfreut Rines Überraschung.
„Nicht schlecht für
den ersten Tag“, murmelte Rine, noch immer verblüfft. „Zehn Erzstücke werden
als Tagesquote abgezogen. Vergiss nicht, dass du morgen 30 Stücke abgeben
musst. Mal sehen, wie viel du noch übrig hast. Wie ich schon gesagt habe, bin
ich bereit, dir für jedes zusätzliche Stück Erz zehn Kupfermünzen zu geben. Du
hast zwölf Stücke, das macht zwei Silber- und 20 Kupfermünzen. Bitte sehr.“
Rine legte das Geld auf den Tisch.
Ach ja. Ich vergaß,
das Verhältnis von Kupfer-, Silber- und Goldmünzen zu erklären. In Barliona
betrug die Quote 1:50. Man bekam also
eine Silbermünze für 50 Kupfermünzen und eine Goldmünze für 50
Silbermünzen. Dementsprechend wären 2.500 Kupfermünzen eine Goldmünze, doch wer
würde schon einen Berg Kupfer gegen Gold eintauschen?
„Was deine
Rattenbeute betrifft, würde ich dir eine Kupfermünze für das Fleisch geben und
drei für die Felle. Einverstanden?“
„Das ist nicht
viel“, sagte ich, womit ich mich selbst überraschte, denn ich feilschte sonst
nie, noch nicht einmal auf dem Markt, sondern bezahlte immer den geforderten
Preis.
„Also gut, weil du
hier neu bist und weil du auch Rattenschwänze hast, zu denen wir gleich kommen,
bin ich bereit, dir für die beiden Rattenfelle je fünf Münzen zu geben und für
das Fleisch zwei Münzen. Bist du damit einverstanden?“
Plötzlich sah ich
eine Meldung:
Ein neuer Beruf wurde freigeschaltet: Handel. Je höher
das Level im Handeln ist, desto besser ist der angebotene Preis beim Kaufen und
Verkaufen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden Händler dir ausgefallene Waren
anbieten.
Dein Ansehen bei den Wärtern der Pryke-Mine hat sich um 1
Punkt erhöht. Aktueller Status: Neutral. Du benötigst noch 999 Punkte, bis du
den Status „freundlich“ erreicht hast.
Fähigkeitssteigerung: + 10% auf Handel. Insgesamt: 10%.
Natürlich war ich
einverstanden! Das Level beim Handeln zu erhöhen, hing also davon ab, wie oft
ich feilschte. Gut zu wissen. Ich war zwar kein Experte im Feilschen, doch ich
konnte es lernen. Es freute mich, zu hören, dass der Verkauf von Bodenschätzen
das Ansehen erhöhte, wenn auch nur ein wenig.
Ich willigte ein,
gab Rine das Fleisch und wollte ihm gerade die Felle aushändigen, als jemand
rief: „Mahan, warte!“
Ich drehte mich um
und sah einen Mann auf mich zukommen, der mit seinem markanten Schnurrbart,
irrem Blick und spitzem Kinn eine verblüffende Ähnlichkeit mit Salvador Dalí aufwies.
„Mahan, ich habe gehört, dass du deine Rattenfelle an diesen ehrenwerten
Zwerg verkaufen willst“, sagte er und machte eine kleine Verbeugung vor Rine.
„Doch jeder in der Mine weiß, dass Batiranikaus, oder einfach Bat, überaus
erfreut wäre, sie dir für 15 Kupfermünzen pro Stück abzukaufen. Sind wir im
Geschäft?“
„15 Münzen? Doch dieser ehrenwerte Zwerg hat mir angeboten, meine Felle
für 20 Kupfermünzen pro Stück zu kaufen“, sagte ich und ahmte dabei seinen Ton
nach. „Da wir uns schon geeinigt haben, bin ich nicht bereit, meine Beziehungen
zu ihm für weniger als 25 Münzen zu riskieren.“ Ich zwinkerte dem Zwerg zu, der
unseren Verhandlungen mit einem erfreuten Lächeln zuhörte.
„25 Münzen! Liebe Güte! Gut ... in Ordnung, ich gebe dir 25 Münzen pro
Fell. Bitte sehr“, erklärte Bat sich überraschend schnell einverstanden und gab
mir eine Silbermünze. „Jetzt gib mir meine Felle.“
Fähigkeitssteigerung: +
10% auf Handel. Insgesamt: 20%.
„Nimm sie dir“,
sagte ich und zeigte auf die Rattenfelle, die auf dem Tisch lagen. Doch als ich
mich wieder zu Rine umdrehte, um die Rattenschwänze zu verkaufen, wurde ich von
einem lauten Schrei unterbrochen.
„Wärter!“, schrie Bat aus vollem Hals. „Mahan hat mich um Geld betrogen!
Er ist ein Schwindler! Ich verlange Schutz!“
Sofort versammelte sich eine Gruppe Sträflinge um uns herum, und die
Wärter hatten Mühe, sich einen Weg zu uns zu bahnen.
„Was ist hier los?“, fragte einer von ihnen mit tiefer Stimme.
„Verehrter Gesetzeshüter! Dieser unwürdige Mann“, rief Bat und deutete
auf mich, „hat meine törichte Naivität ausgenutzt und mich um zwei Silbermünzen
betrogen.“
„Stimmt das?“ Der Wärter drehte sich zu mir um.
„Natürlich nicht, ich ...“
„Er hat Bat bedroht, ich habe es selbst gesehen!“, unterbrach mich ein
Ruf aus der Menge. „Er hat gesagt, er würde Bat umbringen, wenn er ihm das Geld
nicht gibt!“ - „Gebt ihm kein Essen!“ und „Lasst ihn verrecken!“, riefen
andere. Ich sah mich geschockt um, denn ich verstand nicht, was vor sich ging.
Alle hatten einen liebenswürdigen Gesichtsausdruck, sogar Bat, der neben mir
stand, mich freundlich ansah und schrie, dass ich ein Stück Dreck wäre und ihn
betrogen hätte. Ich dachte, ich würde langsam den Verstand verlieren. Was
passierte hier bloß?
„Ruhe!“ Mit einem scharfen Knurren ließ der Wärter alle verstummen.
„Jetzt finden wir die Wahrheit heraus!“
Er murmelte etwas, woraufhin ein Hologramm neben ihm erschien, in dem man
sehen konnte, wie Bat mir das Geld gab. Dann zeigte ich auf den Tisch, wo die
Felle lagen, doch diese Geste konnte auch als „Verschwinde jetzt“ interpretiert
werden. Ich drehte mich von Bat weg, als ob ich damit sagen wollte, dass die
Unterhaltung beendet wäre. Verdammt! Von außen betrachtet konnte man wirklich
den Eindruck gewinnen, ich wäre ein zwielichtiger Schieber. Die Projektion
verschwand, und ich starrte den Wärter bewegungslos an.
„Hier ist meine Entscheidung“, knurrte der Aufseher. „Mahan gibt
Batiranikaus eine Silbermünze zurück, ich wiederhole, EINE Münze, und weil es
sich um sein erstes Vergehen handelt und er hier neu ist, ist der Vorfall damit
erledigt. Wenn er noch einmal bei so etwas erwischt wird, werden ihm alle
Fähigkeitspunkte entzogen. Das ist alles! Und jetzt alle zurück in die
Baracken!“
Ich gab Bat das Geld zurück und griff nach den Rattenfellen, doch es war
zwecklos. Meine Hand griff ins Leere, als ob die Felle nicht länger mir
gehörten. Richtig, das war auch so! Ich hatte sie Bat bereits gegeben!
„Danke!“, sagte Bat mit einem Lächeln und steckte die Felle in seinen
Beutel. „Komm zu mir, wenn du wieder welche hast.“
Bat schenkte mir ein weiteres Lächeln, ehe er davon ging. Ich stand
völlig fassungslos neben Rine. Wie konnten Leute, die einen immerzu
anlächelten, so hinterhältig sein? Es waren doch kreative Menschen, warum
hassten sie andere so sehr? Diese Rufe: „Lasst ihn verrotten ... ich sah, wie
er ihn bedrohte ...“ Warum?
„Du hältst die Schlange auf.“ Rines Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
„Du hast noch die Rattenschwänze. Ich kann diese grauen Viecher nicht
ausstehen.“
„Ja, natürlich“, murmelte ich, als ich mich wieder zu Rine umdrehte. Ich
musste mich zusammenreißen. Die Felle hatte ich zwar verloren, doch das nächste
Mal würde ich schlauer sein und sie mit einem Lächeln aushändigen.
„Also gut, für jeden Rattenschwanz zahle ich zehn Kupfermünzen. Da hast
du dein Geld. Verschwinde jetzt, die Schlange hinter dir wird nicht kürzer!“
Dein Ansehen bei den Wächtern der Pryke-Mine ist um 4
Punkte gestiegen. Aktueller Status: Neutral. Du benötigst noch 995 Punkte, bis
du den Status „freundlich“ erreicht hast.
Nachdem ich
gegessen hatte, machte ich mich auf den Weg zu den Baracken. Ich hatte heute
keine Lust mehr, mit anderen Sträflingen zu sprechen. Lange Zeit konnte ich
nicht einschlafen. Ich wälzte mich im Bett hin und her, doch das beklemmende
Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, ließ mich nicht zur Ruhe kommen.
„Hör auf damit!
Dein Bett bricht noch zusammen, wenn du so weitermachst. Du hältst uns alle
wach! Ist irgendwas passiert?“, hörte ich Karts Stimme neben mir.
Ich erklärte
detailliert, was vorgefallen war, aber Kart lachte nur. Was denn jetzt? Ich
erzählte ihm von einer großen Ungerechtigkeit, und er lachte über mich! Als er
meine Empörung bemerkte, bedeutete er mir, näher zu kommen, räusperte sich und
erklärte: „Du hast mich zum Lachen
gebracht, mein Freund, und es gibt hier nicht viel zu lachen. Was soll ich
sagen ...? Herzlichen Glückwunsch, du bist über die zweite Besonderheit dieser
Mine gestolpert. Normalerweise brauchen Neuankömmlinge etwas länger dafür. So
wie ich es sehe, hast du aber noch nicht ganz verstanden, was hier wirklich vor
sich geht, stimmt's?“
Ich schüttelte den
Kopf, und Kart fuhr fort: „Ich werde dir einige Tipps geben. Erstens: Du hast
heute wahrscheinlich dein Level im Bergbauberuf erhöht und erfahren, wie sich
das anfühlt, richtig? Richtig. Behalte das im Hinterkopf. Zweitens: Es gibt
unzählige Attribute, die ein Charakter haben kann. Davon sind viele
außergewöhnlich, doch du kannst nur vier wählen. Wie du weißt, habe ich das
wenig bekannte Attribut Gesprächigkeit. Ich verdiene Erfahrung, indem ich jedem
alles erzähle. Verstehst du jetzt?“
Entweder war ich zu
dumm, oder Kart und ich sprachen nicht die gleiche Sprache. Ich verstand
einfach nicht, worauf er hinauswollte. Was hatten Gesprächigkeit, freie
Attribute und das Glücksgefühl beim Leveln in einem Beruf miteinander zu tun?
„Also gut, ich
befreie dich von deiner Unwissenheit, zumal es mir Gelegenheit gibt, mein Level
zu erhöhen. Erinnerst du dich daran, was du heute Morgen bemerkt hast? Nein,
warte, das Wichtigste zuerst: Du hast bereits das Glücksgefühl gespürt, als du
in einem Beruf ein höheres Level erreicht hast, und ich bin sicher, dass es dir
sehr gefallen hat. Doch das ist nichts im Vergleich dazu, wenn du in einem
deiner Attribute ein neues Level erreichst. Das Glücksgefühl beim Erhöhen eines
Attributs ist so stark, dass du immer mehr davon willst. Je höher das Level des
Attributs, desto schwerer ist es, das nächste Level zu erreichen, das ist die
Regel. Das ist der Grund, warum Spieler verschwinden, die Level 12 erreicht
haben - das ist in der Pryke-Mine das höchste Level für Hauptattribute. Ich
habe keine Ahnung, wohin sie geschickt werden, darum frage gar nicht erst.
Dieses Glücksgefühl ist der Hauptunterschied zwischen einer Mine für Sträflinge
und der Hauptspielwelt. In der Hauptwelt gibt es diese Funktion nicht, denn
dort spielt man mit Filtern, die praktisch nicht zu entfernen sind. Jetzt zu
dem, was du heute Morgen gesehen hast: Fast alle hier lächeln sich an und sind
aus einem einfachen Grund nett zueinander: das Attribut Liebenswürdigkeit. Am
Anfang erhöht man das Level dadurch, indem man einfach jeden anlächelt, doch ab
Level 6 muss man wirklich glauben, dass man die Person vor einem mag, dass man
gern mit ihr spricht, sie gern anlächelt und so weiter. Man darf keine
Unaufrichtigkeit fühlen. Nur so kann man weiterhin Erfahrungspunkte sammeln.
Ich kann mich an einen Kerl erinnern, der Level 32 in Liebenswürdigkeit
erreichte. Es ist kein Hauptattribut und man kann bis Level 100 gehen.“
Kart hielt einen
Moment inne, atmete tief durch und fuhr dann fort: „Was den Vorfall von heute
Abend betrifft ... Es ist am einfachsten, in dem Attribut zu leveln, das man in
der wirklichen Welt praktiziert hat. Darum setzt sich hier Niedertracht durch.
In dieser Mine leveln die meisten in Liebenswürdigkeit und gleichzeitig in
Niedertracht. Jeder versucht, andere mit schmutzigen Tricks hereinzulegen. Man
kann nicht direkt zuschlagen, doch etwas einzufädeln, das anderen Schaden
zufügt, ist immer machbar. Die Sträflinge werden immer einfallsreicher und
erfinden ständig neue Wege, um andere zu betrügen. Du bist neu hier, deshalb
werden sie versuchen, dich mit den einfachsten Tricks zu hintergehen, so wie
heute Abend. Die Intrigen werden nach und nach schwerer durchschaubar, wofür du
mein Bedauern hast. Jeder musste diese Erfahrungen machen. Ein guter Mann, der
übrigens auf Bewährung in die Hauptspielwelt entlassen wurde, sagte einmal,
dass unsere Mine den Namen ‚Die heuchlerische Mine‘ oder ‚Die Mine der
Heuchler‘ verdiene. Jetzt weißt du, wie es hier läuft.“
Das einzige, was
mir zu Karts Ausführungen einfiel, waren Flüche. Oh Gott, wo war ich bloß
gelandet?!
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